Texte aus dem Jahr 2005
Hannes Katers Installation im Bonner Kunstverein und
der Barock
von Philip Reichwald

In der Fronleichnamskirche in Krakau im November 2003.
Der Innenraum der Kirche hat mich irritiert, obwohl er nichts Besonderes zu haben scheint. Bewegt man sich aber durch die Kirche, suggeriert die einfache Struktur des Kircheninneren in ihrer
rhythmischen Wiederholung (Joche) und wechselnder Größe (Hauptschiff/Seitenschiff) in der Perspektive den unendlichen Raum, wie man ihn von den Kerkerphantasien Piranesis kennt.

Dieser Eindruck entsteht wie bei Piranesi erst durch
eine zweite Schicht im Raum, hier den eingestellten, mit Blatt-
gold überzogenen, barocken Möblierungen und Aus-
schmückungen. Wie ein Bruch erscheinen die schwebenden Engel im Kontrast zu der schlichten Architektur des go-
tischen Kircheninneren. In den Diagonalen
lösen sich die Figuren von der tragenden Raumstruktur der Kirche. Es entsteht eine Überlagerung zweier Raumschichten, die sich zueinander verschieben, aber voneinander abhängig sind. Die teilweise durch die Säulen verdeckten Figuren locken in die Tiefe des Raumes, um die Ecke und weiter. Auf ihnen bricht sich das einfallende Tageslicht, Innen und Außen werden miteinander verwoben und gleichzeitig gegenein-
ander abgegrenzt.

Die aufblitzenden Lichtflecken im Dunkel des Raumes un-
terstützen die Sogwirkung in die Tiefe und
verwischen die Hierarchisierung des Raumes. Die eingestellte Schicht vermittelt im Maßstab, indem sie der abstrakten Raum-
struktur der Kirchenschiffe einen menschlichen Bezug gibt. Sie führt das
Element der Bewegung in den statischen
Raum ein und setzt Schwerelosigkeit und Schwung gegen
die Starrheit der Struktur. Kraft und Leichtigkeit ergänzen sich zu einer spannungsvollen und subtilen Symbiose.

Weil in der Diagonalen nicht mehr der ganze, abgeschlos-
sene Raum wahrgenommen werden kann, sondern schein-
bar nur
immer ein Ausschnitt einer Raumstruktur, sind
seine
Grenzen unbestimmt.

Erst
der gegenseitige Verweis der einen Raumstruktur auf die andere ermöglicht diesen spannungsvollen Eindruck der Unendlichkeit. Eine unendliche Struktur kann man sich schwer vorstellen. Doch der Mechanismus, indem nach dem Einen immer wieder das Andere kommt, funktioniert wie
eine
Krücke für den Geist, um Schritt für Schritt den un-
endlichen Raum in Gedanken zu erschließen
. Durch die
verschiedenen Maßstäbe und wiederkehrenden Elemente wird dieser Eindruck auf perspektivischer Ebene verstärkt: der Raum in seiner Tiefenstaffelung ist nicht mehr deutlich erfassen, er wird im Sinne von C. Rowe „
transparent".

"Vom wahren Zeichnen im falschen"
Raumzeichnung im Bonner Kunst-
verein, 2004 – mehr hier
Von der Linie zur Fläche zum Raum. HK’s Installation* im Foyer des Bonner Kunstvereins hat einen ähnlichen Effekt. Trotz der völlig anderen räumlichen Situation scheint mir
das Thema das gleiche zu sein. Die formalen Parallelen
sind evident: Symmetrische Anordnungen, Variation wie-
derkehrender Elmente und der Schwung der Linien gleichen barocken Kompositionen. Die Zeichnungen sind zum Teil direkt auf die Wand, zum Teil auf Styroporplatten gemalt oder per Overheadprojektor an Wand und Decke oder an
die Raumobjekte aus Styropor geworfen. (Hierbei konzen-
triere ich mich nur auf einige Aspekte der Arbeit.)

Um den Eindruck der Raumauflösung durch Raumüber-
lagerung
zu erreichen, werden die Styroportafeln in Form
der Zeichnungen geschnitten.
Die Wand löst sich gleichsam ab, schwebt in den Raum hinein und entfaltet eine eigene Raumstruktur. Projektoren werfen Licht gegen Wände,
Decke und Tafeln und führen damit eine dritte Ebene von Flächen und Schatten ein.
Durch die immaterielle Raum-
erweiterung wird das Gefüge komplexer
. Die Zeichnungen sind nun nicht mehr real vorhanden, sondern nur noch als Schein. Der Eindruck der Verschleierung durch Überlagerung wird gesteigert, denn die Schattenbilder sind wie einge-
frorene Einstellungen einer Bewegung im Raum.

In der Materialwahl findet [bei HK] ein Bruch der Mittel
statt: Die immaterielle, technische Readymade-Ästhetik
der Projektionen steht der Handarbeit, den Werkstücken gegenüber. Diese
changieren zwischen handwerklicher Präzision und dem Improvisierten, fast Gebastelten.

In der Fronleichnamskirche ist für den Effekt der Bruch in den Stilmitteln, nicht nur in der Formsprache, sondern eher im
Gegensatz von fein und grob, notwendig: das Bewegte braucht einen starren Rahmen, von dem es gehalten wird; das Starre braucht die Bewegung, um kraftvoll und nicht stupid zu wirken.

Outline.

Ich mag die Outline, damit entspreche ich dem Main-
stream
, befreundete Grafiker sagen, sie können diese modische Outline-Ästhetik à la „Designreport" nicht mehr sehen. Was ich elegant finde („Die Dezenz ist die Form
der Eleganz", so sinngem. Javier Marias), finden sie geschmäcklerisch.

Ich mag sie als Architekt, weil sie das Gezeichnete auf das Wesentliche beschränkt, wie in einer Entwurfskizze sich auf die Kontur, also die raumbildenden Kanten reduziert, dabei eine eigene, unabhängig von Objekt alles verbindende grafische Textur entwickelt und somit das Grundproblem
der Architekturdarstellung, der Abstraktion des Räumlichen auf die Fläche, berührt.

Das Gezeichnete wird nicht nur Linie oder Fläche und damit Struktur, sondern entwickelt in Anlehnung an unsere Seh-
gewohnheiten als Zeichen oder Symbol mitunter typo-
grafische Eigenständigkeit. Nur
dann macht übrigens die Abstraktion Sinn: wenn das entstandene inhaltliche Va-
kuum durch eigene Interpretationen aufgefüllt werden
kann
. In der Architektur sind das aber meist nicht die zeichenhaft vermittelten Intensionen, sondern die offene Vielschichtigkeit der Raumwirkung (Licht, Material, Propor-
tion, Dynamik, Konstruktion etc.), die in ihrer Komplexität nicht abgebildet werden kann.

Wie in der Fronleichnamskirche ist es eine stilistisch starke Darstellung, die [bei HK] unterschiedliche Inhalte und Ele-
mente wieder formal zusammenfasst:
die verschiedenen Arbeitsmittel werden durch die Outline verbunden. Viel-
leicht kann man von einem ambivalenten Verhältnis von Zeichen (Inhalt) und Struktur (Darstellung) sprechen.

Die Outline ist aber auch Bewegung an sich: das Auge folgt mit der Linie der Kontur des Körpers. Ist dieser auch noch bewegt, wie zum Beispiel bei einer Person, verkompliziert sich der Wahrnehmungsmechanismus:
Die Outline ist kei-
ne Schnittlinie im architektonischen Sinn, sondern umfährt den gesamten Körper wie einen Schattenriss ohne Rück-
sicht auf seine Tiefe.
Diese bleibt sozusagen im Dunkeln, oder hier besser: einfach weiß und leer.

Geringfügige Perspektivwechsel generieren dadurch ganz andere Konturbilder. Damit erscheint es mir,
dass die Out-
line weniger den Körper an sich erfasst, als einen tempo-
rären Moment,
einen Augenblick festhält. Die Outline führt das Moment der Zeit in die Körperwahrnehmung ein.

Damit haben sie auch etwas Spontanes, Skizzenhaftes,
was im widersprüchlichen Verhältnis zur eben genannten Präzision steht. Ein Beispiel, indem auf einfache Art diese Aspekte zusammengefasst werden, ist die Luftskulptur auf einem Photo, die Picasso mit einer Taschenlampe in den Raum zeichnet.

Otto Friedrich Bollnow: Mensch
und Raum, Kohlhammer, Stuttgart
1976, S. 86ff
Nun dachte ich, eine Entdeckung gemacht zu haben. Die Endlosigkeit, generiert durch das Eingestellt-Sein einer zweiten Raumschicht, war mir in dem Zusammenhang
noch kein Begriff. Doch durch Zufall stieß ich am 09. Feb-
ruar 2005 auf folgende Textstelle
*, der eigentlich nichts hinzuzufügen ist:

„[…]Der barocke Innenraum. Wenn wir die zwiespältige Rückwirkung dieser sich durch Jahrhunderte hinziehenden Entwicklungen auf das Lebensgefühl des Menschen mit den Namen Giordano Bruno und Pascal bezeichnet haben, so haben wir sie damit schon in den allgemeinen geistigen Zusammenhang des Barock eingeordnet. In ihm findet in der Tat dieser Rausch der Unendlichkeit seine letzte Stei-
gerung. Wie tief diese
Veränderung des Raumbewußtseins den Menschen erfaßt hat, erkennt man daran, daß sie
selbst den scheinbar festgefügten endlichen Raum, den
von festen Mauern umschlossenen Innenraum, in die Un-
endlichkeit aufzulösen vermochte. Darum finden wir im barocken Innenraum das deutliche Beispiel dieses Unend-
lichkeitsdrangs. […]

Man kann den barocken Raum etwas paradox am ehesten als einen unbegrenzten Innenraum bezeichnen. Das soll bedeuten, dass das, was im allgemeinen das Wesen des Innenraums ausmacht, die klar begrenzende Wand, hier bewußt verschleiert und für den Raumeindruck zum Verschwinden gebracht wird.

Die Mittel, deren sich die barocken Architekten dabei be-
dienten, sind bekannt. Die in der Renaissance klar beton-
ten Grenzen der Raumteile sind durch
überschneidenden plastischen Schmuck verschleiert, die abschließende Wand wird für den Blick unsichtbar, weil dieser durch Säulen und andre Architekturteile sich verwirrt fühlt, wenn er durch ein Gewirr von vor- und zurückspringenden Teilen hindurch-
sieht, von Durchblick zu Durchblick, so daß er schließlich
nicht mehr weiß – und nicht mehr fragt –, ob hinter all
diesen Durchblicken überhaupt noch etwas Festes zu fin-
den ist.

In der unübersehbaren Folge der Überschneidungen und Durchblicke
löst sich der fest gefügte Raum auf in ins Un-
endliche
führende Perspektiven. Dazu dient das bewußte Spiel mit den Illusionen, etwa im verschwenderischen Gebrauch reflektierender Spiegel. Unbetretbare Räume dienen oft nur zur Erzeugung der optischen Illusion einer unendlichen Ferne.

Als letzte Steigerung dieser Möglichkeiten sei nur an die irreale Weite erinnert, aus der in Weltenburg der silbern glänzende Sankt Georg hervortritt - oder hervorreitet, gleichsam im Augenblick der Körperwerdung einer zuvor unkörperlichen Erscheinung ergriffen, wo, wie Pinder sagt, „alles zum mystischen Traume wird, wo ein silberner Sankt Georg aus einer lichten Tiefe her in den dämmrigen Altar-
raum hineinreitet".

Ähnlich schildert es auch Dehio: „Im engen Presbyterium herrscht nicht mehr Dämmerung, sondern volles Dunkel.
Der Schluß ist ganz vom Hochaltar eingenommen. Aufge-
baut wie ein Triumphbogen.
In der Mitte aber nicht ein
Bild, sondern eine leere Öffnung
, und durch diese sehen
wir wieder hinaus in einen Raum von unbestimmter Form und Größe, eine unendlich fern erscheinende Lichtwelt wogender Gestalten.

Vielleicht wäre die illusionäre Wirkung weniger stark, käme nicht noch ein Kunstmittel besonderer Art hinzu. Mitten in der Öffnung stehen nämlich drei überlebensgroße Stand-
bilder: der Ritter St. Georg zu Pferde, von vorn gesehen, links der sich bäumende Drache, rechts die entfliehende Königstochter. Diese Gestalten befinden sich noch in der dunklen Region; aber Lichtreflexe dringen von hinten ein und gleiten über die goldene Rüstung und das silberne Pferd, so daß dem Eindruck der plastischen Rundung nichts abgeht und zugleich eine Vermittlung zwischen dem Dunkel vorn und der Helligkeit hinten gegeben ist".

Ich habe die treffende Zeichnung der Kunsthistoriker im Wortlaut wiedergegeben, um diese Raumwirkung ganz anschaulich werden zu lassen (besser als jede Abbildung
es vermöchte
[!!]): Der Innenraum löst sich auf ins Unend-
liche, ohne dabei aufzuhören, Innenraum zu sein. Ja das Seltsame ist, daß diese bewegte Unendlichkeit des Raums, diese Grenzenlosigkeit,
dieser Übergang vom begrenzten Raum zur unräumlichen Unendlichkeit, diese Durchdrin-
gung von Endlichem und Unendlichem so nur am Innen-
raum erfahren werden kann
. Denn der Außenraum wird grade dort, wo sich in ihm die volle Weite auftut, am un-
endlichen Horizont des Meeres, klar und überschaubar.

Otto Friedrich Bollnow: Mensch
und Raum, Kohlhammer, Stuttgart
1976, S. 86ff
So ist es auch zu verstehen, daß sich das Unendlichkeits-
streben des Barocks grade im Innenraum vollendet, wäh-
rend der Außenbau vielfach verhältnismäßig unscheinbar dahinter zurückbleibt."
*

Philip Reichwald, Berlin Februar 2005

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